Selbstreguliertes Lernen in Einzelhandelsklassen an der Berufsschule ("segel-bs")
Selbstreguliertes Lernen wird als zentrales Anliegen beruflicher Bildung angesehen. Auszubildende sollten in die Lage versetzt werden, sich selbstständig Lernziele zu setzen,
Lernstrategien auszuwählen und einzusetzen und den eigenen Lernfortschritt zu überwachen.
In einem 3-jährigen Modellversuch des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung ging man der Frage nach, wie die seit einigen Jahren üblichen lernfeldorientierten
Lehrpläne im Einzelhandel konsequent im Sinne einer vollständigen Lernhandlung umgesetzt werden können. Die daraus gewonnenen Erfahrungen an 15 Modellversuchsschulen wurden in
Form zahlreicher Veröffentlichungen für einen Transfer den beruflichen Schulen zur Verfügung gestellt.
Das Konzept des segel-bs sollte man nicht nur auf eine rein handlungsorientierte Erstellung von komplexen Lehr- und Lernarrangements reduzieren, vielmehr bedarf die Umsetzung
einer genauen semantischen und logischen Analyse der Lehrpläne in Bezug auf zu vermittelnde Kompetenzkriterien (Handlungsbezug sowie fachliche Angemessenheit), eines sukzessiven
Herunterbrechens der Lernfelder auf einzelne Lernsituationen sowie - daraus resultierend - einer gemeinsamen didaktischen Jahresplanung der beteiligten Lehrkräfte. Fernerhin sollten
sich segel-bs-Situationen dadurch auszeichnen, dass Schülern Gelegenheit gegeben wird, ihre eingesetzten Lernstrategien (z. B. Lese-, Informationsbeschaffungs-, Elaborations- oder
etwa Präsentationsstrategien) genau zu überdenken und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen (Gedanke der Selbstevaluation). Sprengt man den makrodidaktischen Rahmen, so lässt sich
segel-bs auch als Anregung für die Organisations-/ Schulentwicklung bzw. die Personalentwicklung verstehen.
In Anlehnung an diese Vorgaben des Modellversuches entschieden wir uns im Fachbereich WuV I, für dieses Schuljahr zwei Klassen des Einzelhandels (Verkäufer/ Einzelhandelskaufleute)
der 10. Jahrgangsstufe in dieses Konzept einzubinden. Dazu haben wir zwei Lehrerteams gebildet, die in unseren segel-bs-Klassen unterrichten. Besonderen Wert haben wir darauf gelegt,
dass wir uns bei der Gestaltung und dem Einsatz der einzelnen Lernsituationen eng abstimmen, sodass sich „Stoffbausteine“ für die Schüler wie ein Puzzle ergänzen.
In zwei aufeinanderfolgenden regionalen Fortbildungen zu diesem Thema (Frau Waletzko, Frau Selzam) konnten wir auch Erfahrungen mit Kollegen anderer Berufsschulen austauschen und
gemeinsam auch Lernkonzepte entwickeln. Die Schulleitung hat uns in der Weise unterstützt, dass Klassenzimmer dauerhaft ausschließlich für uns reserviert wurden und wir diese auch
selbst mit Arbeitsmitteln ausstatten konnten.
Kooperation stand nicht nur im pädagogischen Tagesgeschäft im Klassenzimmer im Vordergrund, auch die gemeinsame Erstellung und Abstimmung der Stoffverteilungspläne sowie die
Arbeitsteilung bei Gestaltung der lernfeldorientierten Lehr-/ Lernarrangements war unser aller Anliegen. Diese Lernsituationen sind allen interessierten Kollegen im Lehrerzimmer
zugänglich.
Bei der didaktischen Jahresplanung haben wir uns zum Ziel gesetzt, dass Redundanzen zu anderen Lehrplänen (etwa zum Fach Sozialkunde) vermieden werden bzw. thematische Anschlussstellen
(z. B. zu den Fächern Deutsch und Englisch) ausgelotet werden. Durch die Verzahnung der Planung und Umsetzung des Unterrichts ergibt sich natürlich hoher Gesprächsbedarf, woraus auch
immer wieder neue Ideen erwachsen oder die Notwendigkeit erkannt wird, kurzfristig Lernsituationen umzustellen oder Zeitpuffer anders einzuplanen, wenn eine Lernsituation mal nicht so
schnell von den Schüler bearbeitet werden kann. So lassen sich immer wieder Ideen in die eine oder andere Lernsituation einbinden, etwa die Gestaltung von Schaufenstern im Schulhaus
oder die Erschließung von Fragen zum bargeldlosen Zahlungsverkehr in Zusammenarbeit mit Ausbildungskollegen aus der Bankfachklasse.
Es sollten Grenzen dieses Konzepts aus unserer Sicht nicht verschwiegen werden. Dazu möchte ich zum einen den Status des Lernstoffes und zum anderen den Faktor Zeit aufgreifen. Lernen
in einer authentischen Fallsituation an einem konkreten Problem (z. B. „Wir schreiben eine Mängelrüge an einen Lieferanten.“) ist natürlich in jedem Falle einer abstrakten, lediglich
aufzählenden Systematik vorzuziehen, die für Schüler zunächst einmal zusammenhangloses Wissen darstellt (z. B. „Wir stellen alle Rechte des Käufers bei mangelhafter Lieferung dar.“)
und nicht immer situationsgerecht abgerufen werden kann. Während in erstem Fall Wissen problemorientiert mit Hilfe der Textverarbeitung angewendet werden kann und eine geeignete Lösung
für ein Problem gesucht wird (z. B. „Wir fordern Ersatz, da Reparatur nicht möglich ist.“), erhebt eine Systematik Anspruch auf Vollständigkeit („Wir kennen alle Rechte des Käufers,
d. h. Nacherfüllung, Minderung, Rücktritt, Schadensersatz.“). Eine kontextgebundene Lernsituation steht damit quer zur Reihe einer abstrakten Fachsystematik, da bei ersterer die von
den Schülern gefundene Lösung nur eine mögliche, aber mit Sicherheit nicht die ausschließliche Lösung darstellt. Das bedeutet, dass nach Abschluss von Lernsituationen immer wieder
in einer Generalisierungsphase Wissensbausteine ergänzt werden müssen, die für ein konkretes Problem zwar nicht relevant sind, aber vielleicht doch in der Abschlussprüfung entscheidend
sein können. In diesem Zusammenhang haben wir uns bewusst für einen Mix aus segel-bs-Stunden, aus handlungsorientierten Konzepten sowie aus Generalisierungsphasen und Übungsanteilen
in konventioneller Form entschieden.
Die Ressource Zeit spielt nicht nur beim Entwurf kreativer Lernsituationen eine Rolle, sie ist vor allem dann eine kritische Größe, wenn der Lernprozess von den Schülern selbst zu steuern
und zu reflektieren ist. Jeder Schüler lernt anders und gerade Auszubildende in Einzelhandelskassen haben unterschiedlichste Lernvoraussetzungen, um z. B. unstrukturierte Informationen
zu verarbeiten oder epistemische Neugierde zu entwickeln. Das bedeutet, dass Schüler Zeit als Ressource begreifen müssen, die sinnvoll zu nutzen ist, um im Team eine Lösung für
berufsrelevante Problemstellungen zu entwerfen. Es stellt aber auch Anforderungen an uns Lehrkräfte, Lernsituationen in ihrer Komplexität nicht zu überfrachten und auf realistische
Zeitvorgaben zu achten, um den Lehrplan zu erfüllen. Gerade auch repetitive Vorgänge prägen den Berufsalltag der Schüler, so dass auch hier wieder eine Abwägung stattfinden muss
zwischen Neuentdeckung (z. B. „Wir planen und gestalten ein Themen-Schaufenster.“) und Routinevorgängen (z. B. „Wir prüfen die korrekte Preisauszeichnung oder stellen eine Quittung aus.“).
Dieses Schuljahr hat uns gezeigt, dass es wichtig ist, das Konzept nicht mit zu viel „Faszinationsvokabeln“ zu überfrachten, sondern schlichtweg als Chance zur Weiterentwicklung der persönlichen
Kompetenz als Lehrkraft sowie der Verbesserung der Unterrichtsqualität zu begreifen.
Nähere Informationen zu diesem Thema sowie Fotos finden Sie auf den Seiten zum Schaufensterprojekt und zur
Falschgeldschulung.
Michael Hauck für das segel-bs-Team (Fr. Möller, Fr. Schneider, Hr. Hirr, Hr. Meier) |